Die Piratenpartei ist der Basar, nicht die Kathedrale!
-
Man stelle sich eine Wohngemeinschaft mit zehn Mitgliedern vor. Keiner möchte gerne das Haus verlassen. Nach einer gewissen Zeit gehen zwei der Mitglieder endlich nach draußen und kaufen ein. Nach ihrer Rückkehr kochen sie für die anderen acht Mitbewohner ein Essen. Die Resonanz ist mäßig: "Nichts besonderes." "Hab schon besser gegessen." "Hauptsache, der Ranzen spannt!"
"Einmal ist keinmal." denken sich die Zwei und machen sich wieder auf den Weg. Diesmal wird aufwändiger gekocht, ein Menu ausgeheckt. Diesmal ist die Resonanz schon besser: "Yeah!" "Na also, geht doch!"
Durch das Lob ermuntert setzen die Zwei ihre Arbeit fleißig fort, Menu um Menu wird zubereitet, und Tag um Tag mit Einkaufen verbracht. Irgendwann stellen die Zwei fest: Aus den 8 Mitbewohnern sind mitlerweile 98 geworden, aber zum Einkaufen will irgendwie trotzdem keiner mit. Dafür haben aber alle 98 gute Ratschläge: "Versucht es mal mit Salz, damit kann man angeblich würzen!" "Es gibt Läden, die heißen Supermärkte, da kann man voll gut einkaufen!" Und nicht nur Ratschläge sondern auch Forderungen werden laut: "Ich will Lasagne!" "Spaghetti!" "Macht mal was veganes!"
So langsam wird den Zwei die Arbeit zuviel, und außerdem mehren sich die Stimmen der Kritiker: "Boah, um 12 hat das Essen auf dem Tisch zu stehen ihr faulen Säcke!" "Warum kauft ihr eigentlich immer beim gleichen Laden um die Ecke? Der im übernächsten Ort ist viel besser!" "Lasagne!!!"
Auf den Einwand, dass doch mal jemand anders kochen könnte hagelt es "Kritik": "Ihr seid doch nur faul!" "Ihr seid die Köche!" "Versager!"
Was in einer WG nach schätzungsweise 2 Tagen zu mindestens einem Mord, oder schlimmer noch einer WG-Krisensitzung führen würde ist im Netz an der Tagesordnung. Das ist jedenfalls meine Schlußfolgerung aus der Resonanz um meinen Motzer in Richtung fefe. Zugegeben, die feine Englische war das nicht, aber nach 4 Jahren kochen angepöbelt zu werden, warum das Essen nicht um 12 auf dem Tisch steht ist auch nicht die feine Englische... Den CCC so anzugehen tut mir übrigens Leid, ich habe schlicht dasselbe getan wie es fefe auch so gerne tut: Wenn jeder Pirat für ihn "Die Piraten" ist, nun, dann darf ich ja wohl deutlich sichtbare CCC-Mitglieder zu "Dem CCC" erklären? Bestenfalls zeigt es mal wie lächerlich diese Verallgemeinerung ist. Mehr dazu später.
Neben Grammatiktrollen und anderen Einfallslosen (heißer Tipp: mein geschriebenes Deutsch ist tatsächlich nicht das Beste, aber es ist zumindest lesbar und orientiert sich in seinem Aufbau an meinem gesprochenen Deutsch, das zumindest einigermaßen gut ist) gesellte sich auch ein bestimmter Schlag Coinnaisseur unter die hungrigen Gäste. Da waren allerlei "nützliche" Tipps, und derart viele Menuvorschläge, dass man damit den ganzen Landesverband Baden-Württemberg wochenlang beschäftigen könnte. Mein persönliches Highlight von einem Ratschlag postete dabei Smökje:
1. Glaubwürdige StatementsMan muss dieses Statement einfach mal in seiner Genialität bewundern. Ach DAS haben wir die ganze Zeit falsch gemacht! Endlich sagt das mal jemand so klar! ... NOT!
2. Entwicklung einer angemessenen Arbeitsstruktur
3. Nerven der etablierten Parteien und Fehlverhalten aufzeigen
Als ich diesen Kommentar gelesen habe bekam meine Tischkante einen neuen Gebissabdruck. Die Naivität die aus den übrigen Kommentaren heraus sprach war ja schon ätzend, aber diese Perle setzte alldem noch die Krone auf. Glaubwürdige Statements? Ein schlimmerer Allgemeinplatz fällt mir spontan nicht ein. Zu was denn? S21? NSU-Untersuchungsausschuss? Leistungsschutzrecht? Korruption? Nebeneinkünften? Alles da, interessiert nur kein Schwein.
Entwicklung einer "angemessenen" Arbeitsstruktur? Gerne, komm her und mach! Ich beschäftige mich seit fast 3 Jahren damit und eine Lösung ist mir immer noch nicht in den Schoß gefallen... Was soll das sein? Angemessen? Gemessen an was? Menge der Mitarbeiter? Menge der Aktiven der letzten Woche? Menge der Pressemitteilungen? Qualität der Pressemitteilungen? Anzahl der Aktionen in der letzten Woche? Was ist denn eine "Arbeitsstruktur"? Vorstände? PresseAGs? AGs? Crews? Kreisverbände? Bezirksverbände? Wollen wir die programmatische Entwicklung verbessern? Die Einbindung von externen in Arbeitsabläufe? Die Geschwindigkeit von Pressemitteilungen? Was sollen wir denn "angemessen" erledigen?!
Alles im ständigen Fluss und in Verbesserung begriffen.
Nerven der etablierten Parteien und Fehlverhalten aufzeigen? Wo denn? Wie denn? Auf Aktionsseiten zum Beispiel? Die es etwa zu Peer Steinbrücks Nebeneinkünften gab (oder auch zu Alexander Morlangs :D)? Durch nachbohren bei Fragestunden? Nichtmal fefe interessiert sich für so Kram.
Stattdessen liest man bei ihm von Spaßaktionen wie kleinen Anfragen zur Zombieapokalypse im Berliner Abgeordnetenhaus.
Diese ganzen "hilfreichen Tipps" sind genauso für den Mülleimer wie die Forderungen die gestellt werden. Und warum? Weil die Leute die da texten den wichtigsten Punkt vergessen haben: Sie haben keinen Bock darauf selber zu kochen.
...
Einsinken lassen.
...
Die Netzgemeinde hat 2009 ein paar Mitglieder an das echte Leben verloren. Statt auf Mailinglisten, Foren und weißt-du-nicht-wo beschränkt zu bleiben begaben sich ein paar Pioniere auf in ein unbekanntes Land. Man verließ das traute Heim und fand Menschen auf der Straße die informiert werden mussten. Man erlebte wieviel Spaß Aktionen machen können. Man traf seltsame Wesen mit Berufsbezeichnungen wie "Journalist" oder "Politiker". 2009 war das Jahr in dem ich auf einer Mahnwache Artikel 5 des Grundgesetzes zu Grabe getragen habe und gegen die Absage der Intel Friday Night Games in Karlsruhe auf die Straße ging. Viele die vorher nur passiv Politik wahrnahmen wurden auf einmal aktiv und machten etwas. Es war Aufbruchstimmung! Nach der Bundestagswahl ging es dann wieder etwas langsamer. Allgemeines gegenseitiges beschnüffeln, wer ist das eigentlich hier in diesem Laden? Die ersten Verluste nach dem Hype '09 wurden vermeldet. Die Piraten entdeckten ihre chronische Vorstandsverdrossenheit. Ein paar Landtagswahlen standen ins Haus, und Leute die niemanden kannten wählten Leute die niemand kannte zu Kandidaten auf Listen und in Wahlkreisen. 2011 begann verhalten, mit Enttäuschungen bei den Landtagswahlen im Frühjahr, aber dann kam in Berlin der Durchbruch. Ab da schien alles klar, "die Piraten kommen!" war das neue Motto der Presse. Politik ist hipp und toll! Die Netzgemeinde kommt! Wer das für Realität hielt hatte inzwischen sein böses Erwachen: Auf Hype folgt Absturz.
Die "Netzgemeinde" erkannte den Fehler: Schuld sind diese blöden Piraten! Muss ja so sein, denn das sind ja diese Politiker und die sind wenn überhaupt etwas dann schuld! Aber zu Kreuze kriechen wollte irgendwie keiner. Also keifte man sich gegenseitig an.
Eine wirklich paradoxe Situation entspinnt sich: Teile der Netzgemeinde identifizieren sich unter verschiedenen Labels, irrtümlicherweise nennt sich der passive Teil "Netzgemeinde" der aktive Teil "Piraten". Der einzige echte Unterschied zwischen den Piraten und dem CCC? Die Piraten vertreten nicht nur ein begrenztes Themenfeld, und mit ein bisschen Glück können sie bald im Bundestag direkt mitreden. Experten kann man einladen und anhören oder einladen und ignorieren, Bundestagsabgeordnete sind da. Immer. Kuckt doch mal in die Landtage und seht was passiert! Investiert doch mal das bisschen Zeit um zu schauen was die Piraten tun! Klar kommen wir nicht in die BILD. Wie auch? Der Axel-Springer-Verlag wird den Teufel tun eine Partei die ihm politisch diametral entgegensteht auch noch zu bewerben... Diese Erkenntnis nennt man Medienkompetenz! (Auch eine Förderungs-Forderung der Piraten.)
Würdet ihr bei Mozilla ins Entwicklerforum gehen, einen Thread mit Pöbeleien beginnen und meckern das ein bestimmtes Feature noch immer im Firefox fehlt? Nein? Warum tut ihr es dann bei den Piraten?
Würdet ihr eure Freizeit opfern und euch dann auch noch von Leuten herumkommandieren lassen die faul auf der Seite sitzen und nicht mitarbeiten wollen? Nein? Warum verlangt ihr es dann von den Piraten?
Würdet ihr euch in eine Tätigkeit, die ihr seit Jahren ausführt, von jemandem reinreden lassen der noch nicht einmal den grundlegendsten Hauch einer Ahnung davon hat? Nein? Warum erwartet ihr es dann von den Piraten?
Es ist nicht so, dass Piraten keine Mitarbeit wünschen, im Gegenteil, jede Hilfe ist uns recht! Aber bitte, bitte, bitte, mit Zuckerguss und Sahnehäubchen oben drauf: Hört auf von der Seitenlinie reinzumotzen! Schreibt PMs, entwerft Mitmachsysteme, schreibt Programmanträge, nervt Politiker, geht auf die Strasse und sprecht Menschen an, aber um der Netzgemeinde willen: Hört auf euch selbst anzupöbeln!
Piraten sind ganz normale Netizens die zufälligerweise in einer Organisation mitmachen die es braucht um in Deutschland in Politik direkt einzugreifen! Wenn der CCC zu diesem Zweck ausreichen würde bräuchte es keine Partei, aber den CCC kann man nicht in Parlamente wählen. Piraten sind ihr! Piraten sind nicht eure Nutten und nicht eure Sklaven! Wenn ihr mitmachen wollte: Bitteschön, die Organisationsstruktur ist inzwischen wesentlich einsteigerfreundlicher als sie es zu Zeiten meines Einstiegs war! Gerne geschehen! War mir und allen anderen Beteiligten eine Freude!
Und jetzt seid ihr dran: Die Piratenpartei ist der Basar, nicht die Kathedrale!